Einleitende Statements zum erweiterten Kunstbegriff (aus dem Einladungs-Leporello)
In Vorbereitung auf den HELIX-HOCHBAU
Symposium zum erweiterten Kunstbegriff (Kunsthaus Essen, 1995)
"Als in den 60er Jahren Künstler begannen, ihre Arbeit ins Leben hinein zu entgrenzen, glaubten sie aus einer inneren wie auch äußeren Notwendigkeit heraus zu handeln. Es galt sich einzumischen in Prozesse, die das Leben in seiner Substanz betrafen. Zugleich galt es aber auch, die Kunst aus ihrer Rolle als 'Ersatz für nicht gelebtes Leben' (Jochen Gerz) zu befreien und den Feigenblattcharakter bürgerlicher Kunst boßzustellen.
Eine dermaßen radikale Abschaffung alter Werte und die Ausweitung einer neuen Kunst ins Leben hätten somit konsequenterweise zu einer Deckungsgleichheit Kunst = Leben führen müssen.
Wie man weiß, kam es ganz anders, und es steht nun die Frage im Raum, ob die Kunst nicht etwas völlig anderes als Leben sein muß, um auf ihre Weise ins Leben hineinzuwirken, ob die 'Erweiterungsversuche' heutiger Künstler nicht auch ihr eigenes Scheitern zum Thema haben müßten, um im künstlerischen Sinne als gelungen betrachtet werden zu können."
"Performance ist erweiterte Kunst. Performance kann gar nicht anders als erweitert sein. Ist doch mit dieser Bezeichnung einmal die Verschmelzung von Leben und Kunst gemeint, zum anderen auch der Abschied von Kunst als Methode, künstlerische Objekte herzustellen.
Ein Performancekünstler 'er-lebt' sein Werk im Augenblick der Entstehung. Es ist ein physischer Akt. Dieser Akt ist das Kunstwerk. Mit dem Ende dieses Akts verliert das Werk seine physische Existenz und wird zu einem rein geistigen Kunstwerk, das nur durch Erinnerung oder Berichterstattung weiter vorhanden ist.
Dieser Schritt von der Aktion zur Immaterialität ist der wichtige Beitrag der Performance zum erweiterten Kunstbegriff."
"Was Joseph Beuys mit seinem 'erweiterten Kunstbegriff' einforderte, war bei ihm, im eigenen Werk und Handeln, konkretes Machen, und als Grundidee zur 'Sozialen Plastik' zugleich auch Utopie. Inzwischen haben uns die Neuen Medien auch einen 'erweiterten Realitätsbegriff' (z. B. Virtualität) beschert. Die Künstlergeneration nach Beuys hat sich der Theorie weitgehend verweigert, und sie hat sich gleichzeitig durch die strukturellen Veränderungen im Kunstbetrieb der vergangenen zehn Jahre oft mehr und mehr Sachzwängen beugen müssen (z. B. Marktanpassung). Jene Medien und Disziplinen, in denen auch heute noch ein 'erweiterter Kunstbegriff' ausgelotet wird – jenseits der Mainstream-Kunst – führen durch mangelnde Kommerziabilität ein Schattendasein. Man debattiert im Bundestag auch schon mal über Christos Reichstagsverhüllung, aber nicht über künstlerische Projekte, die sich als neue Form von Land-Art z. B. mit Öko-Technologien vernetzen (z. B. Skulpturen als Solarenergiekollektoren). Kunst, ob erweitert oder traditionell, ist niemals Selbstzweck - sie rekurriert auch auf politische und ethische Verantwortung, ohne aber Politiker, Technokraten etc. aus ihrer Verantwortung zu entlassen."
"Der 'erweiterte Kunstbegriff' ist für mich ein historischer Terminus der 70er Jahre, der die aktuellen Situationen und Möglichkeiten des Agierens innerhalb künstlerischer Zusammenhänge nur unzureichend beschreibt. Erweitert ist der Kunstbegriff schon längst und die Logik des Erweiterns hält immer noch an einem essentialistischen und individualistischen Begriff der Kunst fest. Die Fragwürdigkeit erweiterter Praxis liegt gerade darin, gesellschaftliche, ökologische und wirtschaftliche Bezugnahmen als Kunst zu verbrämen und dort Wirklichkeiten zu beanspruchen, wo kunstweltinterne Positionierungen überwiegen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Kunst höchstens noch als Feld einer bestimmten – politischen, medialen, sozialen, urbanen oder populärkulturellen – Option Sinn macht, wobei die Positionierungen im jeweils anderen beanspruchten Feld zur Geltung kommen müssen und der Kunstbereich als loser Zusammenschluss differenter und heterotroper Praktiken aufscheinen kann."
1995-1996 fand im Kunsthaus Essen das Projekt DER HELIX-HOCHBAU – Ereignisse zum erweiterten Kunstbegriff statt (u. a. mit Christine Biehler, Stephan Dillemuth, Christian Hasucha, Ingold Airlines, Boris Nieslony, Georg Winter). Wie bei jedem Bauvorhaben erschien es ratsam, vorab den Baugrund zu sondieren. Dazu diente am 28. Juni 1995 dies Symposium.
KONZEPT & MODERATION: Matthias Schamp
IMPULS-REFERATE: Helmut Draxler, Peter Friese, Elisabeth Jappe, Jürgen Raap
ORGANISATION: Claudia Heinrich, Christian Paulsen, Karl-Heinz Mauermann, Matthias Schamp, Reinhild Westermann
KARTOFFEL: Siglinde
Nach dem Symposium
erschien die Transkription als
Publikation.
ISBN 3-931201-03-1
5 € (+ 3 € Versandkosten)
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Den kompletten
Text gibt's auch hier als
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